Interview mit Marie-Claude Treilhou

Die Regisseurin von SIMONE BARBÈS OU LA VERTU spricht mit dem Kurator der Retrospektive, Hannes Brühwiler, unter anderem über ihren Film, den Mythos der Nouvelle Vague sowie über Paul Vecchiali und seine Produktionsfirma Diagonale.

Hannes Brühwiler: Simone Barbès ou la vertu ist Ihr erster Spielfilm. Was war der Ausgangspunkt für diesen Film? Gab es einen besonderen Auslöser?

Marie-Claude Treilhou: Das ist schon lange her, aber ich erinnere ich mich noch gut. Ich habe in dem Kino, das im Film zu sehen ist und das auch ein Pornokino war, tatsächlich selber gearbeitet und zwar nicht um dort für einen Film zu recherchieren, sondern um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das wars. Dort arbeitete auch Ingrid Bourgoin. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich jedoch noch gar keine Vorstellung davon, dass ich über dieses Kino einen Film machen möchte. Auf jeden Fall habe ich relativ lange dort gearbeitet und mir wurde bewusst, dass ich in einem Ort arbeite, der relativ komplex ist. Ich habe Philosophie studiert, das war mein Hintergrund und an einiges vom Studium habe ich mich noch erinnert. Ich war mir also sehr über das Problem der Repräsentation bewusst. Stück um Stück begriff ich, dass ich mich auf einer Art Bühne befand: Es gab zum einen einen Rahmen, der das Leben außerhalb des Kinos umfasste, dann gab es das Off, und dann natürlich die Passage zwischen diesen beiden Bereichen, in dem sich die beiden Frauen befinden. Das war für mich wahnsinnig reichhaltig. Dies alles habe ich plötzlich vor mir gesehen und das war ein großes Geschenk.

HB: Haben Sie das während der Arbeit auch mit Ingrid Bourgoin besprochen?

MCT: Nein, gar nicht. Das Drehbuch wurde später geschrieben, wobei ich mich jedoch sehr von ihrem Wesen inspirieren ließ – und auch von meinem. Als das Drehbuch fertig war, habe ich mir gesagt, dass es doch nur eine Form der Gerechtigkeit sei, wenn sie diese Rolle nun auch selber spielt. Sie war jedoch gar keine Schauspielerin, hat sich aber zu meiner sehr großen Überraschung sehr über meine Anfrage gefreut.

HB: Wie haben Sie das Drehbuch geschrieben? Haben Sie das alleine geschrieben oder war das ein Prozess mit einer anderen Autor*in?

MCT: Ich habe dieses Drehbuch alleine geschrieben, wurde jedoch sehr freundschaftlich dabei begleitet von Gérard Frot-Coutaz, der später den Film Beau temps mais orageux en fin de journée (1986) gemacht hat, ein wunderbarer Film. Wir wohnten damals zusammen und standen uns sehr nahe. Er und auch Michel Delahaye haben mich bei der Arbeit sehr ermuntert.

HB: Die ganzen Darsteller*innen um Ingrid Bourgoin herum, waren das alles Schauspieler*innen oder waren das Freunde und Bekannte aus ihrem Umfeld?

MCT: Das Casting spiegelt mein Leben damals wieder. Zwei soziologische Welten zweier soziologischer Pole. Ich wohnte im 13. Arrondissement und hatte auch kein Geld. Ich habe mit den Leuten meiner Straße zusammengearbeitet: Zum Beispiel mit meinem Lebensmittelhändler oder einem Mechaniker, der die Geschichte mit dem Hasen im Film erzählt. Solche Leute waren das. Und dann gab es sogar einige tatsächliche Kunden des Pornokinos. Der Rest waren Freunde oder Freunde von Freunden. Und was Michel Delahaye betrifft: Ich wollte ihm unbedingt für seine Hilfe danken. Mein Leben war damals nicht einfach und er war immer sehr geduldig. So habe ich mich gefragt, ob er nicht in der dritten Episode zusammen mit Ingrid in diesem Auto sitzen könnte. Es war eine wagemutige Anfrage.

HB: Der Film folgt keiner klassischen Drehbuchstruktur, hält sich nicht an eine klassische Dramaturgie, sondern ist viel freier. War das für Sie ein wichtiges Anliegen?

MCT: Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich mir das so gesagt habe. Ich folgte meinem Instinkt, es war ein sehr instinktiver Film. Einige wenige Darsteller haben etwas improvisiert, mit Ausnahme weniger Szenen war der komplette Film geschrieben. Da es jedoch alles keine Schauspieler waren – und einigen war das Kino sehr fremd – erschien es mir wichtig, dass sie sich vor der Kamera wohlfühlen. Und das ist bestimmt der Grund, weshalb der Film eine gewisse Frische ausstrahlt. Es ging mir nicht darum, ein ganz ausgefeiltes Drehbuch zu haben, sondern ich war auf der Suche nach Momenten der Entdeckung. Ich habe gehofft, dass der Film dadurch lebhaft genug wird und dass man dadurch das Interesse nicht verliert.

HB: Der Mythos der Nouvelle Vague hat viele spätere Filme verdeckt. Wie standen Sie zur Nouvelle Vague? Hatten diese berühmten Filme etwas Inspirierendes oder Bedrückendes für Sie als junge Filmemacherin?

MCT: Mein Glück war, dass ich nicht cinéphile war. Mein Wissen über das Kino war begrenzt und ich habe mich nicht in Bezug auf eine mögliche Karriere positioniert. Vielleicht hat das mir diese große Freiheit für diesen Film gegeben.

HB: Der Film ist durch eine große Einsamkeit gekennzeichnet. Haben Sie damals die Gesellschaft auch so wahrgenommen?

MCT: Ja, die Gesellschaft damals erschien mir tatsächlich so. Sie schien einen Vordergrund zu haben, eine Szene im Vordergrund in der sich beispielsweise die Ehe abspielt. Und dann war da eine andere Seite. Ich habe eigentlich praktisch mein ganzes Leben lang nachts gelebt, also war ich damit wie auf der Rückseite dieser Szenerie. Ich befand mich hinter den Kulissen, in der Dunkelheit, wo die Wahrheiten sich eher offenbaren. Tagsüber stehen wir Erscheinungen gegenüber – politischen, ökonomischen, sozialen. Man könnte sagen, dass all das nachts so nicht existiert.

HB: Der Film wurde von der Produktionsfirma Diagonale produziert. Der Filmemacher Paul Vecchiali - sein Film L’étrangleur (1970) läuft auch im Rahmen der Retrospektive - hat diese gegründet. Was hat diese legendäre Produktionsfirma ausgezeichnet?

MCT: Alles drehte sich um Paul Vecchiali. Paul war verrückt nach dem Kino und unglaublich cinéphile. Seine Wohnung befand sich in einer populären Banlieue von Paris und die kleine Straße, in der er lebte, war praktisch seine Kinobühne. Paul hat seine Liebe zum Kino, aber auch die Art und Weise, wie er Filme machte, zum Beispiel wo die Kamera hingestellt werden soll, mit allen geteilt. Ich habe an seinen Filmen zuerst als Statistin mitgewirkt. Später habe ich ihm bei seinen Plansequenzen geholfen, und da wir absolut kein Geld hatten, mussten diese Sequenzen auf jeden Fall gleich beim ersten Mal funktionieren. Es gab also etwas Sakrales, das sehr stark war. Auf diese Weise haben wir das Filmemachen gelernt und wir haben wirklich sehr, sehr viel gelernt. Zu unserer Gruppe gehörten Jean-Claude Biette und Jean-Claude Guiguet, die beide sehr raffinierte Kritiker waren, Gérard Frot-Coutaz und natürlich Paul. Wir lebten im Kino und sogar abends haben wir telefoniert und Filme kritisiert, die gerade im Kino gestartet sind. Bis ins kleinste Detail haben wir besprochen, was in diesen funktionierte und was nicht. Und das konnte bis nachts um zwei dauern. Es war ziemlich unglaublich.