Interview mit Françoise Lebrun

Die Schauspielerin spricht mit dem Kurator der Retrospektive, Hannes Brühwiler, unter anderem über die Filme MON CŒUR EST ROUGE und LA MAMAN ET LA PUTAIN und die Zusammenarbeit mit den Regisseur*innen Michèle Rosier und Jean Eustache.

Hannes Brühwiler: Erinnern Sie sich noch, wie Sie Michèle Rosier das erste Mal getroffen haben?

Françoise Lebrun: Ja, das war lustig. Ich unterrichtete damals gerade an der Sorbonne und ging mittags immer in ein Restaurant, das sich ganz in der Nähe befand. Eines Tages spricht mich eine Frau an und fragt: „Wollen Sie in meinem Film mitspielen? Ich lasse Ihnen meine Telefonnummer hier.“ Das fühlte sich natürlich an wie eine Szene aus einem billigen Roman. Gleichzeitig war ich mit Jean Eustache gerade dabei, den Film La Rosière de Pessac (1968) vorzubereiten. Michèle Rosier hat dann ihren ersten Film Georges qui? (1971) gedreht und ich habe von ihr zunächst nichts mehr gehört - das Notizheft, in das ich ihre Nummer geschrieben hatte, das habe ich übrigens immer noch! Per Zufall habe ich sie dann später noch einmal getroffen und zwar war das im Nachtzug nach Cannes. Wir haben uns also dort wiedergesehen und es war zu diesem Zeitpunkt, dass sie mich fragte, ob ich in Mon cœur est rouge (1976) mitspielen möchte. Ebenfalls in Cannes habe ich Paula Delsol getroffen, mit der ich dann fast gleichzeitig den Film Ben et Bénédicte (1976) gedreht habe. Michèle Rosier wurde dann zu einer sehr guten Freundin und was ihre Filme anbelangt, so bin ich der Meinung, dass sie bis heute sehr unterschätzt sind.

HB: Das war also noch bevor sie mit La maman et la putain (1973) bekannt geworden sind?

FL: Ja genau, diese ursprüngliche Begegnung mit Michèle kam völlig unerwartet. Das ist doch wie die Geschichte, in der ein Regisseur eine junge Frau, die sich zufälligerweise am gleichen Ort befindet wie er, überfallartig anspricht. Das ist schon seltsam. Aber Rosier hat viele Menschen, die für ihre Filme dann wichtig waren, auf den Straßen und in Museen getroffen.

HB: Wissen Sie, was die Ursprungsidee für diesen Film war?

FL: Die Idee war, ein Porträt einer zeitgenössischen Frau zu machen. Also eine Frau, die weder wahnsinnig progressiv noch sehr konservativ ist, die sich aber ihren Lebensunterhalt selbst verdient. In diesen Jahren gab es gleich mehrere Filme, die sich mit dem Feminismus auseinandersetzten, es gab da beispielsweise einen Film von Agnès Varda, und ich habe in einem weiteren dieser Filme mitgespielt, einem Film von Claire Clouzot, der L’homme fragile (1980) hieß.

HB: Mon cœur est rouge strahlt eine große Freiheit aus und ist episodisch erzählt. Gab es eigentlich ein komplettes Drehbuch oder wurde sehr viel improvisiert?

FL: Es gab ein Drehbuch und es wurde nicht viel improvisiert. Ich würde jedoch sagen, dass die Arbeit viel weniger starr war als beispielsweise bei La maman et la putain von Eustache. Bei ihm mussten wir wirklich bis aufs Komma alles genau so sagen, wie er es geschrieben hatte. Bei Rosier dagegen war es viel offener und sie hatte auch ein Auge dafür, was sich auf der Straße sonst noch tat.

HB: Gerade dieses Beobachten, was sich sonst noch im Bild abspielt, spürt man sehr deutlich. Der Film ist eine sehr schöne Mischung aus Dokumentarfilm und Spielfilm.

FL: Ich glaube, dass er ein fiktiver Dokumentarfilm ist. Für Michèle Rosier ging es einerseits darum, dieser Frau zuzuschauen wie sie arbeitet, wobei diese Figur von einer Schauspielerin dargestellt wurde. Andererseits ging es ihr aber auch sehr darum zu schauen, was damals gerade in der Gesellschaft geschah. Das große Fest am Ende mit all den Frauen, das hat Rosier natürlich alles erfunden und inszeniert, doch was ich daran so faszinierend finde, ist, dass man in diesem Fest alle Frauen findet, die zu dieser Zeit wichtig waren.

HB: Und gleichzeitig ist er ein wunderschöner Film über Paris.

FL: Ja, absolut!

HB: Wir haben gerade kurz über die Freiheit gesprochen, die dieser Film ausstrahlt. Dieses Gefühl findet man in vielen Filmen dieser Zeit. Gleichzeitig gehen diese Filme auch viele Experimente ein. Ist das etwas, was das französische Kino dieser Jahre Ihrer Meinung nach auszeichnet?

FL: Das ist für mich immer eine Frage der Produktionsumstände. Mit der Dominanz der Fernsehsender mussten plötzlich gewisse Normen eingehalten werden. Die Filme sollten ja gut konsumierbar sein. Es war also nicht mehr so einfach zu sagen: „Ich will es so machen und darum mache ich es jetzt auch genau so.” Nehmen wir zum Beispiel Jean Eustache: Ich kann mir nicht vorstellen, wie sein Film Un sale histoire (1977) im Fernsehen gezeigt werden könnte. Wenn ich nun an Mon cœur est rouge zurückdenke, dann ist es großartig, dass es in diesen Fällen keine Demagogie gibt. Es gibt keinen Willen, alles auszuerzählen. Es geht schlicht und einfach darum zu zeigen, was diese junge Frau innerhalb eines Tages macht. Es wird gelacht, sie langweilt sich, es gibt die Schwierigkeiten im Job, die Liebe. Da gibt es keine Selbstgefälligkeit, keine moralischen Ansprüche.

HB: Sie haben insgesamt fünf Filme mit Michèle Rosier gedreht. Was haben Sie so sehr an dieser Zusammenarbeit geschätzt?

FL: Wenn ich mir ihre Filme heute wieder anschaue, dann fällt mir zum Beispiel sofort die sehr große Eleganz der Dialoge und eine sehr große Freiheit auf. Und natürlich war sie eine sehr gute Freundin, die mich immer wieder mal angerufen hat und wissen wollte, ob ich nicht für einen halben Tag vorbeikommen könnte, um in einer Szene zu spielen.

HB: Sie haben nicht nur mit Michèle Rosier öfter zusammengearbeitet sondern auch mit vielen anderen Filmschaffenden. Sie haben beispielsweise sehr oft mit Paul Vecchiali gearbeitet, von dem wir hier auch seinen L’Étrangleur (1970) zeigen, aber in den vergangenen Jahren gab es mehrere Zusammenarbeiten mit Guillaume Nicloux. Das ist fast wie eine große Kinofamilie.

FL: Ja, das stimmt. Vielleicht bin ich auch nur sehr gehorsam oder arbeite sehr ruhig! Aber es stimmt, dass ich mit vielen Filmschaffenden immer wieder zusammenarbeiten möchte. Es gibt zwischen uns ein großes Vertrauen und ich folge sozusagen dem Parcours dieser Menschen. Vor kurzem ist mir etwas Lustiges passiert: Als ich in eine Bibliothek hier ganz in der Nähe gegangen bin, hat einer der Sicherheitsmänner angeboten, mir beim Tragen der Bücher zu helfen. Dann sah er mich an und sagte: „Schauen Sie mir in die Augen.“ Und dann sagte er: „Sie sind Françoise Lebrun. Ihre Filme mit Paul Vecchiali oder Jean Eustache mögen zwar keine Blockbuster sein, aber für mich sind das großartige Werke!“ Dieser Moment war wirklich ein großes Geschenk für mich.