Claude Lelouch (2021)

Chronist der Liebenden

Jean-Louis wartet am Pariser Hauptbahnhof auf Anne. Françoise ersehnt Henri auf dem Flughafen von Nizza. Claude Lelouchs Liebende warten ungewiss aufeinander, hoffend und bangend zugleich. Wird der Geliebte aus dem Flugzeug steigen; werden sie sich in die Arme fallen?

Das mittlerweile 50 Langfilme umfassende Werk Lelouchs handelt im Kern von den Grundformen menschlichen Zusammenseins. Durch den Dreh an realen Schauplätzen, den Einsatz von dokumentarischem und Archivmaterial, die Kombination von Schauspieler*innen und Laien und den Einsatz von Improvisation erreicht er diese Lebensnähe, die seine Filme derart authentisch wirken lässt. Gleichzeitig stellt er die Mittel und Ebenen der filmischen Fiktion immer wieder zur Schau und bricht mit ihnen. Sein Klassiker ›Ein Mann und eine Frau‹, mit dem er 1966 über Nacht einen völlig überraschenden Welterfolg feierte, vereint thematisch wie ästhetisch die Quintessenz seines Werks: Seine Filme sind immer Liebesgeschichten, immer kompliziert – manchmal schicksalhaft, manchmal tragisch –, wie aus dem Leben gegriffen. Zudem ist der Film ein Paradebeispiel seiner facettenreichen Filmsprache. Aus ihr klingt eine Freiheit, wie sie im Kino selten zu spüren ist. Farbe und Schwarz-Weiß dürfen sich abwechseln, ebenso exakt choreografierte Szenen und improvisierte Sequenzen. Mal Stille, mal Dialog, mal Musik. Mal alternierend, mal zusammen, mal kommentierend oder abschweifend. Wie im Jazz scheint Lelouch keine Grenzen und Scheuklappen zu kennen. Um einen festen Kern variiert und improvisiert er, da gibt es Soli und Arrangements, Überraschungen und Exzesse.

Seine mittlerweile acht Dekaden umspannende Karriere liest sich einzigartig: In den 1950er-Jahren beginnt sie beim Fernsehen und setzt sich beim Wehrdienst fort. Es sind kurze, dokumentarische Formate, mit denen sich Lelouch erprobt und trainiert. 1965, da hat er bereits seine ersten vier Langfilme realisiert, mit Janine Magnan und Amidou in Hauptrollen, kehrt er zur kurzen dokumentarischen Form zurück und porträtiert den aufstrebenden Star des französischen Kinos: Jean-Paul Belmondo. Die beiden werden schicksalhaft für ihre jeweiligen Karrieren. 1969 drehen sie gemeinsam mit Annie Girardot ›Der Mann, der mir gefällt‹ in den USA, von denen beide fasziniert sind. Ihre Karrieren setzen sie dennoch in Frankreich fort. Ihr nächstes gemeinsames Projekt ›Der Löwe‹ (1988) bedeutet Belmondos Rückkehr zum Autorenfilm und bringt ihm seinen ersten und einzigen César als bester Hauptdarsteller ein. Belmondo ist mit der Presse versöhnt und wagt 1995, wieder unter der Regie Lelouchs, eine Doppelrolle in der freien Klassikeradaption ›Les Misérables‹. Der Film wird für beide zum Triumph: Er gewinnt den Golden Globe als bester fremdsprachiger Film und einen César gibt es für Annie Girardot.

Noch prägender als die Zusammenarbeit mit Girardot und Belmondo ist für Lelouch nur das filmische Aufeinandertreffen mit Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant. ›Ein Mann und eine Frau‹ wird zum Inbegriff des französischen Liebesfilms, ihm folgen zwei Fortsetzungen, die letzte 2019.

Mit ›L’Amour c’est mieux que la vie‹ stellt Claude Lelouch seinen fünfzigsten Film als Deutschlandpremiere auf dem IFFMH vor. Der, wie sollte es anders sein, Liebesfilm mit Sandrine Bonnaire und Gérard Darmon fungiert gleichzeitig als offizieller Abschluss unserer 70. Ausgabe.

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